Zur Zukunft der COVID-19-Pandemie in Europa
Expertinnen und Experten mit RWTH-Beteiligung erstellen eine ausführliche Situationsanalyse und fordern ein gemeinsames europäisches Vorgehen.
Wie sollte Europa zukünftig mit der COVID-19-Pandemie umgehen – welche Strategien sollte es verfolgen und welche spezifischen Risiken in Betracht ziehen? Das Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation brachte mehr als zwei Dutzend Expertinnen und Experten mit Beteiligung der RWTH aus ganz Europa zusammen, die eine ausführliche Situationsanalyse für die kommenden Monate und Jahre erstellten. Die Ergebnisse publizierten die renommierten Fachzeitschriften „The Lancet“ und „The Lancet Regional Health – Europe“.
Im Frühjahr 2021 haben viele europäische Länder ihre Eindämmungs-Maßnahmen gelockert oder ganz aufgehoben. In Kombination mit der neuen Delta-Variante führte dies jedoch wieder zu einem Anstieg der Inzidenz: Daten weisen darauf hin, dass diese Variante deutlich infektiöser ist und auch bereits geimpfte Personen das Virus weitergeben können, auch wenn die Impfung sehr effektiv gegen schwere Verläufe schützt. Vermehrte Reisetätigkeit, die geplante Öffnung der Schulen sowie eine er-höhte Übertragung des Virus in der bevorstehenden nasskalten Jahreszeit machen eine länderübergreifende Strategie notwendig. „Mir ist sehr wichtig, dass wir eine solche europäische Perspektive entwickeln.“, sagt Viola Priesemann als Mitkoordinatorin der Publikation. „In jedem europäischen Land ist die Situation etwas anders. Trotzdem brauchen wir eine gemeinsame Strategie, denn das Virus macht an Grenzen nicht halt.“
Zwei gegensätzliche Strategien
Die Expertengruppe analysierte zwei gegensätzliche Strategien: Eine rasche Auf-hebung der Beschränkungen in der Annahme, dass eine mögliche hohe Inzidenz dank Immunisierung nicht zur Überlastung der Gesundheitssysteme führt; oder ei-ne schrittweise Aufhebung der Beschränkungen im Tempo des Impffortschritts mit dem Ziel niedriger Inzidenzen.
Angesichts des Impfstandes im August 2021 kann die erste Strategie zu einer Inzidenz von mehreren hundert Infektionen pro 100.000 Menschen und Woche führen. Die zweite Strategie basiert auf Kontaktnachverfolgung und erfordert daher eine Inzidenz von deutlich unter hundert. Eine solche Diskrepanz stellt die europäische Zusammenarbeit vor Schwierigkeiten. Denn eine hohe Inzidenz in einem Land kann sich auf die Nachbarn ausweiten. Beide Wege sind nur dann effektiv, wenn die europäischen Länder sich auf eine gemeinsame Strategie einigen „Dafür ist es höchste Zeit, denn kein Land kann die Pandemie alleine effektiv bekämpfen“, so André Calero Valdez vom RWTH-Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft.
Die Vorteile einer niedrigen Inzidenz sind lange bekannt. Dazu gehören weniger Mortalität, Morbidität oder Long-COVID und die Solidarität mit den noch nicht geschützten Personen. Das Risiko zur Entwicklung und Verbreitung neuer Varianten muss niedrig gehalten werden - mit effektiver Testung und Kontaktnachverfolgung. Weniger Personal in Quarantäne und Isolation - aufgrund eigener Infektion oder Kontakt mit einer infizierten Person - sowie niedrige Inzidenzen seien die beste Garantie, damit Schulen und Kindertagesstätten während der kommenden Herbst-Winter-Saison geöffnet bleiben können. Hohe Inzidenzen würden Krankenhäuser und Intensivstationen in einigen Ländern immer noch an die Grenzen bringen.
Ende der Pandemie vorstellbar
Die Pandemie ist zwar noch nicht überwunden, aber ihr Ende sei vorstellbar, so die Studie. Sobald eine hohe Durchimpfungsrate erreicht ist und die Impfstoffe auch weiterhin hochwirksam gegen neue Varianten sind, könnten die Eindämmungsmaßnahmen aufgehoben werden. Bis dahin muss das Ziel ein gemeinsames europäisches Vorgehen sein, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten für Europa und die Welt so gering wie möglich zu halten.
Eine deutschsprachige Langfassung gibt es auf der Webseite, die Originalpublikation wurde am 10. August 2021 in The Lancet veröffentlicht.