Professorin Sabina Jeschke
Senior Advisor Deloitte, Former Board Member Deutsche Bahn AG
Sollten wir nach der Pandemie wieder zu vollständigen Live-Kursen zurückkehren, weiterhin reine Online-Lehre anbieten, oder hybride Lehrangebote machen?
Sowohl reine Präsenz- als auch reine Onlinelehre funktionieren, wie wir auf beeindruckende Weise feststellen konnten. Aber natürlich sollte man beides auf vernünftige Weise kombinieren und so das Beste aus beiden Welten vereinen. Aufgezeichnete Inhalte können mit zeitlichem Verzug und mehrfach – zum Beispiel zur Vorbereitung auf eine Prüfung – rezipiert werden. Es ist also nicht nötig, im Hörsaal präsent zu sein – im Fall von Vorlesungen finde ich digitale Formate sogar vorteilhaft.
Wichtig ist, dass bestimmte Formen des Wissenstransfers, des wechselseitigen Austauschs sowie angewandter Elemente wie zum Beispiel Laborpraktika „live“ und weitgehend in Präsenz vor Ort stattfinden. Ich selbst habe mich vor einigen Jahren mit dem Konzept digitaler Praktika beschäftigt – für diesen Anwendungsfall war damals die Zeit noch nicht reif. Hier wird es aber in den kommenden Jahren einen Durchbruch geben – so um etwa 2025 rechne ich mit einem großen technologischen Schub durch den Einsatz von Quantencomputing. Dies wird eine ganz neue Komplexität von Simulationen sowie Echtzeitfähigkeit ermöglichen und so die Realitätsnähe insgesamt erhöhen (Stichwort „Digital Twin“).
Sollten wir in Zukunft die Lehre zusammen mit Unternehmen gestalten? Sollte man das anstreben, und falls ja, in welcher Form?
Auf jeden Fall! Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie ist von großer Bedeutung, und zwar für beide Seiten. Sie ermöglicht es, Theorie und Praxis schnell zusammenzuführen und neue Entwicklungen voranzutreiben und anzuwenden. Außerdem profitieren wir von der Diversität, die dies mit sich bringt.
Ihre Vision: Wie sollte das Nachfolgemodell einer traditionellen Vorlesung aussehen, das Forschen und „Machen“ integriert (ganz gleich, ob in Präsenz oder online)?
Um es klar vorweg zu sagen: die klassische Vorlesung hat sich seit Jahrhunderten als Lehrformat bewährt. Sie gewährleistet zum einen den Wissenstransfer durch eine Expertin oder einen Experten auf einem bestimmten Gebiet. Zum anderen erfordert die Struktur der Vorlesung, die Aufmerksamkeit für ein bis zwei Stunden auf einen bestimmten Gegenstand zu lenken, das diszipliniert gewissermaßen. Daher müssen wir intelligente Erweiterungen mit neuen Elementen rund um die bewährten Formen der Lehre entwickeln. Das könnten beispielsweise interuniversitäre Diskussionsgruppen sein, neuartige anwendungsorientierte Projekte oder institutionalisierte Praktika.
Braucht man in 10 Jahren noch Dozierende oder reicht eine KI/Roboter, um die Lehre zu halten?
Wir erleben gerade eine „Demokratisierung des Lernens“. Wo in der Vergangenheit nur einige wenige den Brockhaus oder ähnliche Nachschlagewerke zur Hand hatten, kann heute jede und jeder auf frei zugängliche Wissensquellen zurückgreifen. Wir wissen auch, dass die meisten Nutzerinnen und Nutzer der großen MOOC-Plattformen in den USA keine amerikanischen Studierenden sind, sondern beispielsweise die Kinder indischer Landwirte, die vor zehn Jahren noch nicht die Möglichkeit hatten, sich die Vorlesungen eines MIT-Professors anzusehen. Doch dies sind eher passive Lehrformen beziehugsweise passiver Zugang zu Wissen. Der nächste Schritt wäre, individuelle Lernstrategien mithilfe intelligenter Agenten, also AI-basierter Bots, zu unterstützen. Das ist ein bisschen so, als hätte jede und jeder Lernende einen privaten Tutor zur Verfügung.
Aus Industrie und Gesellschaft kommen eine Reihe von Forderungen, was die Universitäten künftig in ihren Curricula unterbringen sollen. Wenn das Studium nicht verlängert werden soll, muss man auch fragen, was wir denn künftig nicht mehr benötigen. Haben Sie dazu Vorschläge?
Solange man bei der traditionellen Struktur der Studiengänge bleibt, wo die umfangreiche, intensive Vermittlung der Grundlagen eine zentrale Rolle spielt – ich denke hier zum Beispiel an die Kurse Höhere Mathematik für Ingenieurinnen und Ingenieure – so kann man da kaum etwas weglassen. Die gegensätzliche Option, Studiengänge zu erweitern, wäre für mich keine Katastrophe – wir Menschen werden ja immer älter. Aber es gibt Alternativen, wie zum Beispiel die projektorientierten Kurse, wie sie beispielsweise die Universität Maastricht anbietet. Hier gibt ein konkretes Projekt das Regelwerk vor und nicht die verschiedenen Fachdisziplinen. Die Studierenden erwerben somit eine breite Palette von Fähigkeiten innerhalb eines bestimmten Projekts.
Wie können die Universitäten die Vermittlung transdisziplinärer Fähigkeiten verbessern, und wie können sie den Studierenden dabei helfen, transdisziplinäre zu denken und zu arbeiten?
Universitäten können Interdisziplinärer agieren, wenn sie ihre Strukturen – und auch ihre Denkweisen – entsprechend verändern. Das bedeutet eben auch, dass es unter anderem nicht tabu sein darf, die traditionellen Fächerstrukturen aufzulösen. Das Beispiel der Singapore University of Technology and Design (SUTD) zeigt auf, was man hier anders machen kann: dort werden Forschung und Lehre nach interdisziplinären Clustern organisiert.