Gründung und Entwicklung
„Mens agitat molem – Der Geist bewegt die Materie“
Die Anstalt liefert keine fertigen Praktiker und Spezialisten, aber sie setzt ihre Studirenden in den Stand, solche auf dem kürzesten Wege zu werden und dabei die erforderliche Wissenschaft zu besitzen um selbstständig zu sein.
Allgemeine Rathschläge für Diejenigen, welche ein Polytechnikum besuchen wollen. Anlage zum Programme des Königlichen rheinisch-westphälischen Polytechnikums zu Aachen. Aachen, 1871. S. 6.
Es ist Montag, der 10. Oktober 1870: In Artenay tobt im deutsch-französischen Krieg eine erbitterte Schlacht. In Aachen dagegen beginnt für eine Gruppe junger Menschen ein friedfertiger neuer Lebensabschnitt. Als Erste dürfen sie zur Vorbereitung auf ihre berufliche Zukunft eine innovative höhere Bildungseinrichtung besuchen: die „Königliche Rheinisch-Westphälische Polytechnische Schule“ zu Aachen. In der sich gerade industrialisierenden Gesellschaft ergänzt sie den traditionellen humanistischen Bildungsansatz durch eine naturwissenschaftliche und praxisorientierte Ausrichtung.
„Mens agitat molem“ transportiert diesen Anspruch in Stein gehauen – über dem Eingangsportal des Chemischen Laboratoriums. Offenbar trifft dieses Konzept auf einen Bedarf. Mit 201 Studierenden, Zuhörern und Hospitanten startet sie überaus erfolgreich in das erste Studienjahr 1870/1871. Was zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt: 150 Jahre später ist sie gemessen an der Studierendenzahl die größte Technische Universität im deutschsprachigen Raum und zählt zu den 100 besten Universitäten weltweit.
Bis dahin ist es ein herausfordernder Weg, der bereits in der Gründungsphase beginnt. Die ersten Ideen reichen mindestens bis ins Jahr 1857 zurück. Mehrere rheinische Städte konkurrieren um die attraktive Bildungseinrichtung.
Seit 1858 wird öffentlich für den Standort Aachen als dem Zentrum des ersten deutschen Industriereviers geworben. Köln und Aachen liefern sich schließlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Entscheidend für Aachen ist das überragende Engagement einer nicht minder innovativen Institution. Im 1825/1834 gegründeten Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit verbinden sich fortschrittliches bürgerliches Engagement und Unternehmertum zu einem höchst modernen ganzheitlichen Konzept. Es optimiert den Industrialisierungsprozess durch die Verknüpfung von Bildung und Rendite. In diesem Sinne stellt der Verein enorme Finanzbeiträge zur Erst- und Folgefinanzierung bereit. Die Standortfrage besiegelt offiziell die Unterschrift des Königs am 14. November 1863.
Am 15. Mai 1865 erfolgt dann die feierliche Grundsteinlegung. Die inhaltliche Ausrichtung ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollends geklärt. Bei der Eröffnung weist die Schule bereits neun Fachbereiche aus: Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Pharmazie, Bauingenieurwesen, Vermessungstechnik, Maschinenbau und Hüttenwesen. Bergbau und Elektrotechnik folgen als erste Erweiterungen.
Die Lehre ist von Beginn an entsprechend der bestehenden Universitäten wissenschaftlich strukturiert. Konsequenterweise erfolgt zehn Jahre nach Gründung die Umwidmung zur Technischen Hochschule, inklusive einer Rektoratsverfassung und dem Habilitationsrecht. Das Promotionsrecht als weiteren Meilenstein ihrer bildungswissenschaftlichen Emanzipation erkämpfen sich die Technischen Hochschulen erst zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Die RWTH auf dem Weg zum „Unternehmen Wissenschaft“
Von 1898 an ergänzt zeitweise ein zweijähriger Studiengang für Handelswissenschaften das Lehrangebot. Dieser darf durchaus als Keimzelle des Wirtschaftsingenieurwesens verstanden werden, der Begriff ist seinerzeit schon geläufig. Auch die Dozenten verfügen über Praxiserfahrung, die Verbindung von Theorie und Praxis ist ausdrücklich erwünscht und bereits als Erfolg versprechend erkannt.
1899 geht das Maschinenlaboratorium an den Start und setzt gleich einen Markstein auf diesem Weg. Sein erster Leiter ist Hugo Junkers, er lebt zu dem frühen Zeitpunkt schon den interdisziplinären, integrierten Ansatz vor, der mehr als ein Jahrhundert später entscheidend war bei der erfolgreichen Exzellenzbewerbung. Die Inkarnation des RWTH-Mottos „Von der Idee zum Produkt“ ist die von dem Wissenschaftsunternehmer Junkers begründete Lufthansa.
1902 tritt die erste preußische Promotionsordnung in Kraft, gleichzeitig wird der „Diplom-Ingenieur“ als akademischer Grad eingeführt.
Im Wintersemester 1909/10 schreiben sich die ersten beiden Studentinnen am Polytechnikum in Aachen ein, inzwischen hat das Preußische Kultusministerium auch Frauen den Zugang zu den Universitäten zugesichert. Ein Jahrzehnt später – ab 1921 – können auch Frauen in Deutschland habilitieren. 1923 habilitiert sich die erste Frau an der TH Aachen. Die Liberalität der Weimarer Demokratie trägt ermutigende Früchte. Der Nationalsozialismus setzt diesem kurzen Aufatmen ein jähes Ende, gefolgt von einer bleiernen Schwere im widerstandslosen Dienst des totalitären Unrechtregimes. Als Aachen am 21. Oktober 1944 kapituliert, ist das TH-Gelände zu 70 Prozent zerstört – ebenso wie die wissenschaftliche Freiheit. Mit dem zweiten deutschen demokratischen Neubeginn startet Anfang Januar 1946 bereits wieder der Lehrbetrieb mit etwa 250 eingeschriebenen Studierenden.
Im gleichen Jahr noch gründet die TH ein Fortbildungsinstitut als Außenstelle im Essener Haus der Technik und geht damit einen weiteren Schritt in Richtung Praxisorientierung,1948 folgt eine weitere Außenstelle in Wuppertal. Und seit 1963/64 besteht die Option eines wirtschaftswissenschaftlichen Zusatzstudiums für Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler sowie Ingenieurinnen und Ingenieure.
Mit der Professur für „Unternehmensforschung (Operations Research)“ schlägt die RWTH 1967 ein neues Kapitel zur digitalen Optimierung von Unternehmen auf.
Die Dynamik des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders spiegelt sich auch in der Nutzfläche der TH selbst. Sie wächst bis Anfang der 1960er-Jahre von 33.000 Quadratmetern vor dem Zweiten Weltkrieg auf 88.000 Quadratmeter. Zahlreiche Neubauten entstehen als Signal einer deutlichen Erweiterung der Forschungsaktivitäten und Lehrangebote. Und an keiner deutschen Universität steigen die Studierendenzahlen so rasant an wie hier.
Ende 1960 ist sie die größte deutsche Technische Hochschule mit über 10.000 Immatrikulierten. Die seit 1922 bestehende Gliederung in vier Fakultäten besteht im Wesentlichen bis 1960; allerdings erweitert in den 1950er-Jahren um zahlreiche neue Professuren und ein aufgefächertes Angebot in Lehre und Forschung entsprechend den sich verändernden Erfordernissen. Neue Fächer und neue Fakultäten begründen neue Strukturen. Die Elektrotechnik emanzipiert sich 1961 vom Maschinenbau, 1965 und 1966 runden die Einrichtung einer Philosophischen Fakultät und einer Medizinischen Fakultät die Ausrichtung einer Universität im klassischen Sinne ab.
Seinerzeit leitet auch globalisierungsgetriebene Standortverlagerung das Sterben der „alten“ Industrien, sprich: Tuch-, Nadel- und Schwerindustrie, ein. Das Know-how der RWTH hilft nun, die „Technologielücke“ des Reviers bei der Restrukturierung zu schließen. Die auf Initiative der IHK Mitte der 1970er-Jahre gestartete Kooperation zwischen RWTH und regionaler Wirtschaft rückt erstmals explizit die Gründungsthematik ins akademische Blickfeld und mit ihr die neuen Zauberwörter „Technologie“- und „Innovationstransfer“. Es kommt zu ersten sogenannten Spin-offs im Bereich der IT und zu einem bundesweit bahnbrechenden Kooperationsvertrag zwischen IHK und RWTH zur Förderung des Transfers.
1984 eröffnet in Aachen das erste europäische Technologiezentrum, betrieben von der „Aachener Gesellschaft für Innovation und Technologietransfer mbH“, kurz AGIT, in Trägerschaft des Vereins „Rheinische Gesellschaft zur Förderung innovativer Existenzgründungen und des Technologietransfers e.V.“, kurz RHEGIT.
„Chancenkapital“ kommt von den regionalen Sparkassen samt einer Wagniskapitalbörse. Technologie- und Gewerbeparks entstehen als Folgeangebot für erfolgreiche Spin-offs.
Die Allianz von IHK, Sparkassen und RWTH hat sich längst bewährt, als sie im Jahr 2.000 die Strukturen um ein Gründerzentrum ergänzt, das systematisch dem ganzheitlichen Coaching von Lehrenden und Studierenden dient.
2003 komplettieren Wirtschaftsingenieurstudiengänge samt der Professur „Wirtschaftswissenschaften für Ingenieure und Naturwissenschaftler“ mit dem Schwerpunkt Entrepreneurship das Portefeuille. Zu diesem Zeitpunkt stehen in Aachen bereits 239 Existenzgründungen zu Buche, fast ausschließlich von Absolventen und Absolventinnen der RWTH.
Leuchtturmcharakter hat nicht zuletzt der hochdynamische Campus Melaten mit seinen zahlreichen immatrikulierten Unternehmen. Die Bilanz: Die RWTH ist 2019 bei einem Umsatz von erstmals über einer Milliarde Euro mit 427 Millionen Euro die drittmittelstärkste deutsche Universität, davon wiederum 103 Millionen Euro aus Industriekooperationen.
Die außerordentlichen Erfolge der RWTH im Rahmen der Exzellenzinitiative demonstrieren seit 2008 die hohe Wertschätzung des hybriden Konzepts von Wissenschaft und Praxis. Der Ansatz ist vor dem Hintergrund der rasanten Digitalisierung von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft aktueller denn je. Entsprechend sieht sich die RWTH auch in Zukunft einem nachhaltigen wechselwirksamen Innovations- und Technologietransfer mit Blick weit über die eigene Region hinaus verpflichtet. Die Grundvoraussetzung dafür – die ständige Optimierung ihres exzellenten Lehrangebots und seiner Vermittlung sowie die unabdingbare reflektierte Agilität in puncto Forschungsaktivitäten – wird sie konsequent weiterentwickeln. Dazu fühlt sie sich ihren Studierenden – im Wintersemester 2019/20 waren es 45.628, davon 11.280 aus dem Ausland –, ihren fast 10.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und nicht zuletzt der Gesellschaft gegenüber verpflichtet.
Illustration
Ansicht Hauptgebäude und Chemisches Laboratorium
Autoren
Paul Thomes und Tobias Dewes
Quellenangaben
- Gast, Paul (Hg.), Die Technische Hochschule zu Aachen 1870-1920. Eine Gedenkschrift. Aachen, 1920.
- Habetha, Klaus (Hg.), Wissenschaft zwischen technischer und gesellschaftlicher Herausforderung: die Rheinische-Westfälische Technische Hochschule Aachen 1970-1995. Aachen, 1995.
- Klinkenberg, Hans Martin (Hg.), Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen 1870|1970. Stuttgart, 1970.
- Ricking, Klaus, Der Geist bewegt die Materie. Mens agitat molem. 125 Jahre Geschichte der RWTH Aachen. Mainz, 1995.
- Hochschularchiv: Homepage, Geschichte der RWTH, Zeitleiste; Vorlesungsverzeichnisse der RWTH (ab 1870)