"Nachhaltigkeit bedeutet, an den richtigen Stellen zu bauen"

  Frau lächelt in die Kamera Urheberrecht: © RWTH Aachen Professorin Christa Reicher leitet an der RWTH Aachen den Lehrstuhl für Städtebau und Entwerfen und das Institut für Städtebau und europäische Urbanistik.

RWTH-Stadtplanerin Christa Reicher über Dachbegrünung, den Mut zur Lücke, die Eroberung des Himmels in Aachen und einen Kaffee in Florenz

Es ist nicht weniger als die Frage, wie wir in Zukunft leben werden und wollen, die Professorin Christa Reichert umtreibt. Sie leitet an der RWTH Aachen den Lehrstuhl für Städtebau und Entwerfen und das Institut für Städtebau und europäische Urbanistik – und ist nun auch Inhaberin eines UNESCO-Lehrstuhls. Wir haben sie getroffen.

Professorin Reicher, wie sieht die optimale Stadt der Zukunft aus?

Die optimale Stadt gibt es nicht. Aber die gute und lebenswerte Stadt ist die, die viel Grün und kurze Wege hat, die lebendig ist – und natürlich gehört auch Schönheit dazu.

Ist die grüne Stadt mit den kurzen Wegen auch die, die der Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit am ehesten entspricht?

Nachhaltig ist es immer dann, wenn gleichzeitig sozial, ökologisch und ökonomisch gedacht wird. Für den Städtebau heißt das: An den richtigen Stellen möglichst dicht, vielleicht auch mal hoch bauen, an anderer Stelle eben ganz bewusst Freiräume in der Bebauung lassen oder schaffen. Das ist vor dem Hintergrund der Herausforderung durch den Klimawandel und die Überhitzung in den Sommermonaten ungemein wichtig. Also: Schon bauen, ich sage nicht: Hört auf zu bauen! Sondern nachhaltig an der richtigen Stelle bauen.

Folgt daraus, dass eine historisch gewachsene Stadt, in der es kaum oder keine Freiräume gibt, nicht nachhaltig sein kann?

Wenn wir zum Beispiel auf Aachen schauen, sehen wir, dass es nach dem Abriss eines Parkhauses in der Innenstadt auch Chancen für neue Freiräume geben kann – dann muss man den Mut haben, diese Chancen zu ergreifen. Nachhaltigkeit bedeutet aber auch, in den Stadtzentren einen gesunden Nutzungsmix zu haben. Vor dem Hintergrund der Probleme des Einzelhandels und der vielen Leerstände geht es bei Nachhaltigkeit auch darum, neue Nutzungen in die Innenstädte zu bringen. Hier schauen wir wieder verstärkt auf das Thema Wohnen, aber auch auf unsere Dachlandschaften. Mit Studierenden setzen wir aktuell ein Projekt um, das wir „Eroberung des Himmels“ genannt haben. Die Studierenden gucken sich die Stadtsilhouette und die Dächer von Aachen an und zeigen, wie man an einer Stelle neue Nutzungen ergänzen, an anderer Stelle Energie erzeugen, aber eben auch, wo man Grün in die fünfte Dimension der Dachlandschaft bringen kann. Das ist eine gute Strategie mit Blick auf bebaute Strukturen.

Wenn es also zum einen das Thema Wohnen, zum anderen die Begrünung gibt, muss dann immer zwischen sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit unterschieden werden?

Diese unterschiedlichen Aspekte müssen integriert gedacht werden. Das ökologische Anliegen wird leider viel zu oft gegen das soziale ausgespielt. Bauen ja, Schaffen von Wohnraum ja, aber an der richtigen Stelle, wo das Bauen verträglich ist mit den Rahmenbedingungen. Das bedeutet auch, dass an anderer Stelle dann eben nicht gebaut wird, sondern vorhandene Frischluftschneisen und wertvolle Grünräume nicht nur erhalten, sondern auch für alle Menschen zugänglich gemacht werden.

Welchen Beitrag kann der neue UNESCO-Lehrstuhl vor diesem Hintergrund leisten?

Der neue Lehrstuhl hat ja zwei Themen in seinem Titel: Das kulturelle Erbe und den Städtebau. Das kulturelle Erbe ist dabei eine ganz wichtige Komponente für die Identität von Städten und Regionen. Auch die gerät mitunter unter die Räder aufgrund einer sehr stark favorisierten ökonomischen Entwicklung. Aber die Identität – und die damit verbundene Attraktivität von Städten – können auch Motor für Stadtentwicklung sein. Mit dem sehr breit gefächerten Spektrum Städtebau schaut der UNESCO-Lehrstuhl eben nicht nur auf die Gestalt der Stadt oder die Baukultur, sondern er sieht Baukultur, Schönheit und Ästhetik als eine integrative Komponente von Stadtentwicklung. Das spielt nicht nur in den Metropolen, sondern auch in vielen Kleinstädten eine große Rolle, denn letztlich geht es ja immer um Lebensqualität für die Menschen vor Ort. Der UNESCO-Chair hat dabei den Vorteil, durch das weltweite Netzwerk den internationalen Austausch vorantreiben zu können. Wir wollen dabei Support leisten, um den Blick für diese integrative Stadtentwicklung und Nachhaltigkeit zu schärfen. Dabei geht es nicht nur um innovative, um planerische Konzepte, sondern der Lehrstuhl hat auch einen Bildungsauftrag, also das Wissen, das wir generiert haben und zukünftig generieren werden, einzuspeisen in Lehre und Forschung.

Wie hat sich Stadtplanung im Laufe der Zeit verändert?

Stadtplanung hat immer eigene städtebauliche Leitbilder verfolgt. Eines der prominentesten ist die Charta von Athen, die die Devise verfolgt hat, unterschiedliche Nutzungen – Wohnen, Arbeit, Freizeit, Verkehr – voneinander zu trennen. Für Viele war das die größte Katastrophe im Städtebau, weil diese Funktionstrennung, gerade in der Nachkriegszeit, vieles zerstört und zum Beispiel die Gewerbegebiete am Rande der Stadt und viel Anderes, was wir heute nicht mehr gut finden, hat entstehen lassen. Aber es war auch dieses Leitbild, dass der Qualität des Wohnens Vorfahrt einräumt und somit den Blick der Menschen für das Thema Qualität des Lebens geschärft hat. Wir sollten Leitbilder nicht dogmatisch verfolgen, sondern schauen, was Lebensqualität ausmacht. Heißt für heute: Weder sollten wir nur das Leitbild der kurzen Wege oder der 15 Minuten-Stadt verfolgen, noch ausschließlich das der partizipativen Stadt. Alle diese wichtigen Werte und Errungenschaften sollten wir integriert betrachten.

Womit wir wieder beim Anfang des Gesprächs wären – die ideale Stadt gibt es folglich nicht?

Eine ideale Stadt ist für mich eine Stadt, die uns allen Freude bereitet, in der Lebensqualität für Alle da ist. Dafür gibt es aber weder Blaupause noch Patentrezept. Es braucht unterschiedliche Antworten, unterschiedliche Konzept, eben unterschiedliche Zukünfte für unterschiedliche Städte.

Wo trinken Sie lieber Ihren Kaffee: Im klimagerechten, nachhaltigen und sehr grünen 15 Minuten-Stadtquartier oder im historischen Zentrum von Florenz?

Zu der einen Zeit in Florenz, zu der anderen Zeit im Grünen. Wichtige Frage, die zeigt, dass es im Städtebau eben nicht die eine Antwort gibt.

 
Video abspielen
"Nachhaltigkeit bedeutet, an den richtigen Stellen zu bauen" – RWTH-Stadtplanerin im Interview