„Kraftwerke der Zellen“ unerlässlich für den richtigen Riecher

27.03.2012

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Marc Spehr

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In der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift „Nature Neuroscience“ berichtet Univ.-Prof. Dr.rer.nat. Marc Spehr, Inhaber der Lichtenberg-Professur für Chemosensorik, über die Ergebnisse eines aktuellen RWTH-Forschungsprojekts. Mit den Lichtenberg-Professuren fördert die VolkswagenStiftung herausragende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in innovativen Lehr- und Forschungsfeldern. Die VolkswagenStiftung sichert für fünf bis maximal acht Jahre die Finanzierung der Professur unter der Voraussetzung, dass die jeweilige Hochschule die Übernahme erfolgreich evaluierter Professuren garantiert. Spehr und sein Team erforschen die Neurophysiologie der Geruchswahrnehmung.

 

Kalzium für eine feine Nase

Kalzium spielt als Signalmolekül oder Botenstoff in nahezu allen Körperzellen eine entscheidende Rolle. Vor allem in Nervenzellen wird der Kalziumspiegel daher strikt reguliert. Auch für eine feine Duftwahrnehmung - den „richtigen Riecher“ - ist die genaue Kontrolle des Kalziumhaushaltes unerlässlich: In den Riechnervenzellen in unserer Nase bewirkt der Kontakt mit eingeatmeten Duftstoffen eine unmittelbare Erhöhung des Kalziumspiegels und führt damit zu einem elektrischen Impuls, der über Nervenfortsätze an das Gehirn weitergeleitet wird. Gleichzeitig ist Kalzium auch verantwortlich für eine Verminderung der Empfindlichkeit der Riechnervenzellen bei andauernder Duftpräsenz. Im Alltag beobachtet man dies zum Beispiel, wenn der frische Kaffee, der uns morgens in die Küche lockt, nach wenigen Minuten am Frühstückstisch nicht mehr bewusst wahrgenommen wird. Bislang wurden in der Riechforschung viele Prozesse der Kalziumregulation in Riechnervenzellen untersucht, die Rolle der so genannte Mitochondrien blieb allerdings weitgehend unerforscht. Mitochondrien liegen als membranumhüllte „eigenständige“ Kompartimente im Inneren der Zellen vor. Ihre Hauptaufgabe ist die Herstellung von Energie aus der aufgenommenen Nahrung, sie werden daher auch als die „Kraftwerke der Körperzellen“ bezeichnet. Die RWTH-Wissenschaftler konnten nun belegen, dass Mitochondrien entscheidend an der Regulation des Kalziumspiegels in den Riechnervenzellen beteiligt sind.

Einblicke in das Innere von Nervenzellen - Neue Mikroskopiemethode entwickelt

Am Forschungsgebiet Chemosensorik wurde in enger Zusammenarbeit mit den Firmen Olympus Europa (Hamburg) und Axxam Spa (Mailand) eine neuartige Mikroskopiemethode entwickelt, die es ermöglicht, einen Anstieg des Kalziumspiegels im Inneren der Mitochondrien sichtbar zu machen. Dabei spielt die so genannte Biolumineszenz eine entscheidende Rolle: Durch die eingesetzte Technik löst das in die Mitochondrien einfließende Kalzium eine chemische Reaktion aus, bei der Licht entsteht. Die Untersuchungen finden daher in völliger Dunkelheit statt. Nur dann, wenn der Kalziumspiegel im Inneren der Mitochondrien ansteigt, wird Licht abgegeben, das mikroskopisch „einfangen“ wird. Im Experiment führen Duftstoffe in den Riechnervenzellen der Nasenschleimhaut von Mäusen zu einer solchen Lichtreaktion. Mitochondrien sind also an der Aufnahme und Regulation des Kalzium(spiegels) in den Riechnervenzellen beteiligt.

„Mitochondrien-Wanderungen“ im Inneren von Nervenzellen

Ausgehend von diesem Befund wurde untersucht, welche Folgen ein Verlust dieser Funktion für das Riechvermögen hat. Die Wissenschaftler der RWTH Aachen kamen zu folgenden Ergebnissen: Die Aufnahme von Kalzium durch Mitochondrien ermöglicht erst die feine Wahrnehmung ganz unterschiedlicher Duftintensitäten. Fällt demnach die Kalziumspeicherfunktion der Mitochondrien aus, so sind die Riechnervenzellen nicht mehr in der Lage zu „messen“, ob eine Substanz stark oder schwach riecht. Die Nervenzellen arbeiten dann lediglich in einer Art „Ja – Nein“ Modus. Zudem steigt die Detektionsschwelle, ein Duftstoff wird erst bei erhöhter Konzentration wahrgenommen. Überraschenderweise beeinflussen Mitochondrien die Adaptation, die Gewöhnung an einen Geruch, in den Riechnervenzellen nicht.

Ein weiterer brisanter Befund: die Riechnervenzellen regulieren quasi bedarfsabhängig die Menge an Mitochondrien in verschiedenen Zonen einer Nervenzelle. Werden Riechnervenzellen dauerhaft „beduftet“, so werden die Mitochondrien in genau die Areale der Zellen transportiert, wo der Kontakt mit Duftstoffen stattfindet und damit auch der Kalziumeinstrom passiert. Im Experiment beobachtet man dann eine „Mitochondrien-Wanderung“ im Inneren der Zellen.

Ergebnisse auch für die Diagnostik von Krankheiten von Bedeutung

Die neuen Erkenntnisse haben klinische Relevanz und langfristig ein medizintechnisches Potenzial. Eine Reihe von neurodegenerativen Erkrankungen, wie Parkinson oder Alzheimer, werden mit defekten Mitochondrienfunktionen in Verbindung gebracht. Die Aufnahme von Kalzium durch Mitochondrien ist zum Beispiel ein elementarer Bestandteil bei der Regulation beziehungsweise der Auslösung des so genannten „natürlichen Zelltods“, der Apoptose. Unterschiedliche Krankheitsbilder könnten in einer Funktionsstörung der Mitochondrien ihre Ursache haben. Langfristig könnte eine Weiterentwicklung der neuen Messmethode auch in der Diagnostik solcher Krankheitsbilder eingesetzt werden.