„Entscheidende Schritte werden in Russland stattfinden müssen“

03.03.2022

Täglich gibt es neue erschütternde Nachrichten aus dem Kriegsgebiet. Was heißt das für die Ukraine, für Deutschland und die Welt? Professor Ralph Rotte vom Institut für Politische Wissenschaft der RWTH erläutert die Geschehnisse in der Ukraine.

 

Professor Rotte, welche Sanktionen haben EU und NATO eingeleitet und was sollen diese bewirken?

Rotte: Neben der Sperrung des Luftraums für russische Flugzeuge konzentrieren sich die EU und die NATO auf eine Isolation Russlands vom Weltmarkt durch Handels- und Finanzbeschränkungen sowie das Einfrieren des persönlichen Vermögens und die Beschränkung der Bewegungsfreiheit von Angehörigen der russischen Eliten. Am stärksten wirken sich wohl die Sperrung der ausländischen Reserven der russischen Zentralbank und der teilweise Ausschluss russischer Banken aus SWIFT aus, denn sie blockieren einen großen Teil der Im- und Exporte Russlands und belasten auch den russischen Staatshaushalt stark.

Wie bewerten Sie diese Sanktionen?

Da Putin seine Aktion sicherlich genau geplant hat, wird er mit Sanktionen wie der Begrenzung des Zugangs zu europäischen Finanzmärkten gerechnet haben. Eine kurzfristige Verhaltensänderung, insbesondere eine Einstellung des Krieges ist daher nicht zu erwarten. Auch die persönlichen Sanktionen werden sich meiner Meinung nach nicht auf sein Verhalten auswirken. Das ist kurzfristig wohl eher Symbolpolitik. Wenn es Putin aber nicht gelingt, den Krieg wie geplant schnell zu gewinnen und einen fait accompli zu schaffen, könnte das mittelfristig durchaus seine innenpolitische Position unterminieren, wenn es zu Vermögenseinbußen der Oligarchen und ihrer Familien sowie massiven Preissteigerungen und Versorgungsengpässen für die Bevölkerung kommt, etwa aufgrund des fallenden Rubelkurses, der Importe massiv verteuert, oder fehlender Technologieimporte, die für die Produktion notwendig sind. Dass es zu Finanzproblemen kommt, zeigt sich ja schon in der starken Zinserhöhung der Zentralbank und der Einführung von Kapitalexportkontrollen.

Wirken diese Sanktionen damit?

Die Wirkung der Sanktionen hängt natürlich auch davon ab, inwieweit China zumindest teilweise als Lieferant oder Abnehmer von Gütern einspringen kann - und will. So oder so sehe ich aber nicht, dass die Sanktionen in kürzester Zeit zu einem Ende der Kämpfe führen. Vladimir Putin wird wohl so lange weitermachen, bis er seine Forderungen weitgehend durchgesetzt hat oder durch innenpolitischen Widerstand daran gehindert wird. Da können die Sanktionen sicherlich hilfreich sein; die entscheidenden Schritte werden aber wohl in Russland selbst stattfinden müssen.

Was könnten Putins nächsten Schritte sein und mit welchen Gegenreaktionen müssen wir rechnen?

Mit dem Einmarsch in die Ukraine war eine militärische Auseinandersetzung zwischen russischen und ukrainischen Truppen nicht mehr zu verhindern, nachdem die russischen Einheiten offenbar nicht als „Befreier“ begrüßt wurden. Die ersten Tage haben gezeigt, dass sich die russischen Militärplaner offenbar verkalkuliert haben und die russischen Streitkräfte operativ und logistisch suboptimal vorbereitet waren. So hat man die Schwierigkeiten des Vormarsches durch den ukrainischen Widerstand unterschätzt und etwa darauf verzichtet, von Anfang an die Luftwaffe umfassend einzusetzen, wohl auch, weil man eigene Verluste vermeiden wollte. Nachdem es ihnen nicht gelungen ist, einen Blitzvormarsch wie etwa der US-Amerikaner im Irak 2003 zu realisieren, muss die russische Seite nun verstärkt zu kruderen Instrumenten wie massivem Artilleriebeschuss, dem Einsatz konzentrierter gepanzerter Verbände und eventuell umstrittener Waffensysteme wie Cluster- oder Vakuumbomben greifen. Ein Zurückweichen kommt für Putin nicht in Frage, jetzt, wo er sich so weit und mit so unerfüllbaren Forderungen aus dem Fenster gelehnt hat. Das wird die Opferzahlen insbesondere auf ukrainischer Seite und unter den Zivilisten deutlich erhöhen. Nachdem er sich nun selbst in eine Ecke manövriert hat und wohl auch vom Ausmaß der Reaktion des Westens überrascht wurde, wird er auch in seiner Rhetorik noch militanter werden, auch hinsichtlich seiner nuklearen Drohungen.

Wird er diesen Drohungen Taten folgen lassen?

Zu einer militärischen Involvierung der NATO wird es meiner Meinung nach trotzdem nicht kommen. Eine direkte militärische Konfrontation zwischen NATO und Russland würde ein viel zu großes Eskalationsrisiko bedeuten; das weiß Vladimir Putin genauso wie es die westlichen Entscheidungsträger wissen. Deshalb halte ich auch die Diskussionen um eine Flugverbotszone, so wünschenswert sie auch aus humanitären Gründen sein mag, für verfehlt. Es ist undenkbar, dass NATO-Flugzeuge über der Ukraine russische Kampfflugzeuge abschießen. Es bleibt natürlich das Restrisiko einer versehentlichen Konfrontation, etwa wenn sich im Baltikum, auf der Ostsee oder im Schwarzen Meer Schiffe oder Flugzeuge zu nahe kommen. Unterstellt man Putin ein Mindestmaß an Zweckrationalität, für die er als fähiger Taktierer bislang bekannt war, ist auch ein befürchtetes Ausschlagen in Richtung Baltikum oder Polen kaum vorstellbar.

Wie bewerten Sie die Entwicklungen vor Ort – soweit möglich?

Soweit man das von außen beurteilen kann, wird die russische Seite nun ihre militärischen Anstrengungen hochfahren, und ich kann mir durchaus vorstellen, dass dies eventuell doch zu einem Zusammenbruch der bislang bewunderungswürdigen Kampfmoral der Ukrainer führen könnte. Spätestens, wenn die Opferzahlen deutlich steigen, die Versorgungslage schwierig wird und die überlegene Feuerkraft einer zunehmend rücksichtslosen russischen Armee ersichtlich wird, dürfte es schwer werden, sich dem Eindruck eines hoffnungslosen Widerstands zu entziehen. Auch die faktischen politischen Enttäuschungen über den Westen, der trotz aller Hilfsleistungen und Sanktionen keine direkte militärische Hilfe leistet oder die Ukraine sofort in die EU mit ihrer Beistandsverpflichtung aufnimmt, können da eine Rolle spielen. Aber zumindest bislang scheinen die ukrainische Führung und große Teile der Bevölkerung ja noch wild entschlossen zu sein, nicht aufzugeben. Auf der anderen Seite gibt es ja wohl auch in Russland eine wachsende Skepsis gegenüber dem Krieg, und die Moral der russischen Soldaten scheint alles andere als gut zu sein. Das spricht dafür, dass sich die Kämpfe noch länger hinziehen können.

Warum hat Putin gerade jetzt diesen Streit vom Zaun gebrochen?

Für uns Europäer kommt diese Aktion aus heiterem Himmel, die Begründung dafür scheint uns übertrieben. Für die russische Gesellschaft, zumindest die politische Elite und insbesondere Putin selbst, ist die Erweiterung der NATO allerdings seit Jahrzehnten eine reelle Bedrohung; auch das Anbändeln der Ukraine mit dem Westen wird, vor allem von der russischen Elite, als gravierende Bedrohung wahrgenommen. Der Zeitpunkt ist von Putin noch aus anderen Gründen optimal gewählt. Die EU war in seinen Augen zerstritten – Stichwort Brexit und Streit mit Polen und Ungarn – , die USA haben einen vermeintlich schwachen Präsidenten, Deutschland eine neue Regierung, Frankreich einen Präsidentschaftswahlkampf, Großbritannien einen eher flatterhaften Premier, und zu allem Überfluss sind alle gemeinsam mit der Coronakrise beschäftigt. Dazu kommt, dass Russland in einigen militärischen Punkten, etwa Hyperschallwaffen, gegenwärtig noch einen technischen Vorsprung gegenüber dem Westen vorweisen kann – ganz abgesehen davon, dass Putin innenpolitisch durchaus einen Popularitätsschub durch einen siegreichen Krieg gebrauchen kann und auch nicht mehr der Jüngste ist. Da lag es für ihn offenbar nahe, jetzt seine Vision von der Wiederherstellung einer russischen Einflusssphäre à la UdSSR zu realisieren, die er wohl für seine Mission hält.

Auf was für Auswirkungen muss sich der Westen einstellen?

Vor allem auf wirtschaftliche Kosten, darunter natürlich steigende Energiepreise – da der Winter fortgeschritten und nicht besonders hart ist, wird das aber wohl nicht so dramatisch ausfallen. Wenn die Sanktionen über längere Zeit aufrechterhalten werden, kann das aber durchaus zu weltwirtschaftlichen Verwerfungen und einer Behinderung der konjunkturellen Erholung nach der Corona-Pandemie führen. Politisch könnte sich Einiges verändern: Wir müssen uns gerade in Deutschland klarmachen, dass Friede zerbrechlich ist, dass militärische Drohungen und Gewalt leider auch in Europa immer noch einen Platz haben. Der doch gewissermaßen abrupte und heftige Kurswechsel der Bundesregierung in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeigt, dass dies tatsächlich passiert. Und auch das führt natürlich zu höheren finanziellen Lasten.

Welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen?

Sicherheitspolitische Fragen sind in der europäischen und deutschen Politik und Gesellschaft lange Zeit weitgehend ignoriert worden, zum Beispiel bei energiepolitischen Entscheidungen wie dem Ausstieg aus der Atomkraft angesichts der Rohstoffabhängigkeit von Russland. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass es in der Welt nicht unbedingt harmonisch zugeht, wirtschaftliche Verflechtung nicht unbedingt zu Frieden führt, und verschiedene Akteure noch immer in Kategorien von Einflusszonen und Territorialforderungen denken. Die Krise zeigt außerdem unsere eklatante sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA und der NATO und könnte der Anlass zum Aufbau stärkerer europäischer Verteidigungskapazitäten sein. Die aktuellen Ereignisse demonstrieren außerdem, dass die Weltpolitik in den letzten Jahren komplexer und durchaus gefährlicher geworden ist.

Inwiefern?

Das Säbelrasseln von wirtschaftlich schwachen aber militärisch starken Staaten wie Russland hat nicht zuletzt durch deren Verfügung über Nuklearwaffen wieder mehr Bedeutung bekommen, und der völkerrechtlich essentielle Grundsatz, dass Grenzen nicht einseitig aufgrund irgendwelcher historischer oder ethnischer Ansprüche geändert werden dürfen, erscheint bedenklich bedroht. Dabei muss man kritisch anmerken, dass die jetzt so häufig genannte „Zeitenwende“ wohl weniger eine grundsätzliche Änderung der Grundstrukturen gegenwärtiger internationaler Politik bedeutet, als vielmehr die Anerkennung dieser Grundstrukturen auch durch die europäische und deutsche Politik und Öffentlichkeit. Aber es bleibt festzuhalten, dass die Multipolarität konkurrierender Großmächte, vor allem der USA, Russlands und Chinas, zu einer komplizierten Gemengelage von Konfrontation - wie im Fall von Ukraine und Taiwan - und Kooperation, etwa in der Wirtschaft oder bei der Frage des iranischen Atomprogramms, führt. Der Westen, vor allem die Europäer, hatten bislang kaum eine echte Antwort darauf.

Haben wir diese Antwort nun?

Es bleibt zu hoffen, dass die neue Relevanz sicherheitspolitischen Denkens, die im Übrigen von Experten in Politik und Wissenschaft seit langem eingefordert wurde, und die unter Beweis gestellte Fähigkeit zu gemeinsamem Handeln der Europäer und des Westens jetzt nachhaltige Wirkungen haben und nicht verpuffen sobald es wirklich teuer wird oder wenn es darum geht, sich auch klar gegenüber Staaten wie China zu positionieren.